Lipoprotein(a) als unabhängiger Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen

Angeborene Fettstoffwechselstörungen, wie eine familiäre Hypercholesterinämie (FH) oder ein hoher Lipoprotein(a)-Spiegel (Lp(a)) steigern das kardiovaskuläre Risiko maßgeblich, werden aber in den gebräuchlichen Risikotabellen nicht abgebildet.

Erst 2022 wurde erstmalig der Versuch unternommen, die Rolle des Lipoproteins(a) bei der Entstehung vorzeitiger kardiovaskulärer Erkrankungen quantitativ tabellarisch abzubilden (Kronenberg et al 2022). Kardiovaskuläre Ereignisse wie z. B. ein Herzinfarkt im jüngeren Lebensalter sind selten, aber häufiger als vermutet. Eine Studie am Bremer Herzzentrum hatte schon 2015 gezeigt, dass jeder 15. Infarkt-Patient jünger als 45 Jahre alt ist. 80 % der Betroffenen sind männlich (Wienbergen et al 2022). Bei jungen Patienten (ohne klassisches Risikoprofil für eine KHK) verläuft der Infarkt oft schwerer, ein höherer Anteil als bei den Älteren überlebt das erste Jahr nach dem Ereignis nicht (höhere Reanimationsrate, höhere Sterblichkeit (Fach et al 2015).

Lipoprotein(a)

Lipoprotein(a) (Lp(a)) ähnelt in seiner Zusammensetzung dem LDL- Cholesterin, unterscheidet sich aber in seinem Eiweißprofil. Neben pro-thomobotischen und pro-atherosklerotischen hat Lp(a) auch noch eine pro-inflammatorische Wirkung, welche hier nicht beschrieben ist.

Lp(a) ist neben dem Apolipoprotein B (Apo-B) auch mit Apolipoprotein A (Apo-A) bestückt, welches die Atherosklerose fördert, wie schon in einer prospektiven Kohortenstudie, der Copenhagen City Heart Study mit fast 24.000 Teilnehmern, beschrieben wurde (Aguib 2015). Der Spiegel im Blut bleibt konstant und ändert sich im Laufe des Lebens nicht. Ernährung, Körpergewicht, Statine oder Sport haben keinen Einfluss. Über die epidemiologische Verteilung des erhöhten Lipoproteins(a) wird weiterhin intensiv geforscht. Etwa 20 % aller Messwerte von Lipoprotein(a) sind erhöht. Bei vorzeitiger Atherosklerose und bei Aortenklappenerkrankungen lassen sich bei bis zu einem Drittel der Fälle pathologisch erhöhte Werte für Lipoprotein(a) messen. Eigene Erfahrungen bei jüngeren Herzinfarkt-Patienten bestätigen das.

Familiäre Hypercholesterinämie (FH)

Die Ursache der familiären Hypercholesterinämie ist eine genetische Mutation am LDL-Rezeptorgen, am Apo Lipoprotein B-Gen oder am PCSK9-Gen (Singh 2015). Zahlreiche weitere Mutationen können für die Erkrankung mitverantwortlich sein. Die klinische Diagnose wird bei erhöhtem LDL-Cholesterin (> 190 mg/dL, > 4,9 mmol/L), positiver Familienanamnese für Hypercholesterinämie und frühzeitiger atherosklerotischer Gefäßkrankheit oder bei Nachweis klinischer Zeichen wie z. B. Xanthomen gestellt. Goldstandard ist die Identifikation des zugrundeliegenden Gendefekts, der in 80 % gelingt und eine Familienuntersuchung ermöglicht (Klose et al 2014). Zur Identifizierung von Risikopersonen dienen Scores zur strukturierten Befunderhebung wie der Dutch Lipid Clinic Network Score (Austin et al 2004), die aber selten angewendet werden (Ahmed et al 2016). Die Häufigkeit der homozygoten Form der familiären Hypercholesterinämie (HoFH) wird mit etwa 1:300.000–1.000.000 angegeben. Die Häufigkeit der heterozygoten Form (HeFH) wird für die Allgemeinbevölkerung mit etwa 1:300, für ein kardiologisches Patientenkollektiv mit etwa 1:30, für ein Kollektiv mit vorzeitiger Atherosklerose wie auch für ein Kollektiv mit sehr hohem Cholesterin mit ungefähr 1:15 angegeben (Behesti 2020). Somit wären in jeder angiologischen und kardiologischen Praxis mit 1.000 Patienten mindestens 30 Betroffene und in jeder Hausarztpraxis mit 2.000 Patienten mindesten 5 Betroffene zu erwarten.

Therapeutische Optionen, Lipoprotein(a)

Die bisher einzig wirksame Therapie ist die in der Regel wöchentliche und lebenslang kontinuierlich durchgeführte Lipid-Apherese, die nach Antragstellung von der Krankenkasse finanziert wird. Die Apherese ist ein invasives Verfahren, führt aber zu einer direkten 60–70 %-igen Senkung bzw. zu einer mittleren 30–40 %-igen Senkung des Lp(a) und zur Stabilisierung der Plaquemorphologie. Die Pro(a)LiFe- Studie bestätigte mit prospektivem Multicenter-Design, dass die Lipid-Apherese mit zunehmender Apheresedauer zur effektiven Prävention kardiovaskulärer Ereignisse führt (Leebman et al 2013, Klingel R et al 2015). Die Infarktrate kann um 97 % gesenkt werden (Jaeger et al 2009). Aktuell wird eine europäische Multicenterstudie zum Effekt der Apherese im Vergleich zu konservativer Therapie durchgeführt (Hohenstein et al 2017). Pelacarsen, ein Antisense-Oligonucleotid und ein spezifischer Lp(a)-Senker, der bei monatlicher Gabe zu einer 80–90 %-igen Lp(a)-Absenkung führt (Tsimikas 2020), wird aktuell in einer Phase-III-Studie hinsichtlich der Reduktion kardiovaskulärer Ereignisse bei ca. 8.000 Patienten geprüft. Studienergebnisse weiterer spezifischer Lp(a)-Senker werden in den nächsten Jahren erwartet (O’Donoghue et al 2022). Jenseits dieser Optionen, also auch außerhalb der Lipoprotein-Apherese und der Teilnahme an wissenschaftlichen Medikamentenstudien zur Senkung des Lipoproteins(a), besteht für jeden Patienten der therapeutische Anspruch, sämtliche sonstigen kardiovaskulären Risikofaktoren mit letzter Konsequenz so niedrig wie möglich zu halten, wenn schon das Risiko Lipoprotein(a) nur unvollkommen eliminiert werden kann:

  • Diabetes-Therapie, falls erforderlich, mit optimal kardiovaskulär protektiven Substanzen wie GLP 1 Analogon und SGLT2 Hemmern
  • absolute Tabakrauch-Abstinenz
  • konsequente Blutdruck-Einstellung auf Werte von unter 135/85 mmHg bei Selbstmessung
  • Senkung des LDL-Cholesterins soweit irgend möglich – mindestens jedoch auf unter 1,4 mmol/l/ (unter 55 mg%)
  • gefäßgesunde Ernährung
  • ausdauersportliche Bewegungstherapie mindestens 150 min/ Woche.

Familiäre Hypercholesterinämie

Basis der Behandlung des erhöhten kardiovaskulären Risikos bei familiärer Hypercholesterinämie sind auch die nicht-medikamentösen Maßnahmen und die günstige Beeinflussung der übrigen kardiovaskulären Risikofaktoren. Anders als beim Lipoprotein(a) bestehen aber zur Senkung des krankhaft erhöhten LDL-Cholesterins gute medikamentöse Verfahren, die im Rahmen eines Stufenschemas bei der Behandlung der FH zum Einsatz kommen (Mach et al 2020):

  • Maximale lipidsenkende orale Therapie mit Statin zur Hemmung der LDL-C- Synthese
  • Zugabe von Ezetimibe zur Verminderung der enteralen Aufnahme von LDL-Cholesterin
  • Bempedoinsäure als Alternative z. B. bei Unverträglichkeiten von Statinen oder als Ergänzung zum Statin zur Intensivierung der Cholesterinsenkung
  • PCSK9-basierte parenterale Therapie in Form von subkutaner Injektion als PCSK9-Hemmer Evolucumab oder Arilocumab (alle 2 Wochen) oder als PCSK9-Synthesehemmer Inclisiran alle 6 Monate

Aktuelle Leitlinien – Empfehlungen zur Diagnostik

Lipoprotein(a)

Aufgrund der genetischen Disposition wurde die Empfehlung zu einer einmaligen Bestimmung von Lp(a) in die ESC-Leitlinie zum Management von Fettstoffwechselstörungen aufgenommen (Klasse-IIa-Empfehlung) (Mach et al 2020). Der statistische Zusammenhang zwischen erhöhtem Lipoprotein(a) und einem vorzeitigen erhöhten Risiko für atherosklerotische Erkrankungen ist wissenschaftlich gesichert. In- zwischen ist auch ein statistischer Zusammenhang zwischen erhöhtem Lipoprotein(a) und Erkrankungen der Aortenklappe bekannt (Wilson et al 2019). Die Europäische Leitlinie zur Behandlung von Fettstoffwechselstörungen von 2019 empfiehlt, bei jedem Bürger wenigstens einmal im Leben das Lipoprotein(a) zu bestimmen (Thanassoulis 2019, Mach et al 2020). Internationale aktuelle Leitlinien empfehlen bei vorzeitiger Entwicklung einer atherosklerotischen Herzerkrankung das Lipoprotein(a) mit einem oberen Grenzwert von 50mg/dl bzw. 125 nmol/l als zusätzlichen Risikomarker zu bestimmen (Grundy et al 2019, Mach et al 2020).

Familiäre Hypercholesterinämie

Nach den aktuellen Europäischen Leitlinien EASC Guidelines 2020 (Mach et al 2020) ist eine FH in Betracht zu ziehen bei:

  • KHK-Patienten im Alter von unter 60 Jahren (w) bzw. unter 55 Jahren (m)
  • positiver Familien-Anamnese
  • klinischen Zeichen wie Arcus cornealis am Auge oder Xanthomen der Haut
  • stark erhöhten LDL-Cholesterin Werten nativ > 190 mg% (> 5 mmol/l)
  • Mindesten 6 Punkten bei der strukturierten Befunderhebung DLCN-Score

Eine FH ist gesichert bei 8 Punkten im DLCN-Score bzw. bei Nachweis der genetischen Mutation am LDL-Rezeptor-Gen, am PCSK9-Gen oder am AboB-Gen.

Die gesetzlichen Krankenversicherungen haben sich verpflichtet, die Kosten für die relativ aufwendige genetische Untersuchung der zugrundeliegenden Gendefekte zu übernehmen, wenn der klinische Verdacht eindeutig bestätigt wurde (DLCN-Score von mindestens 6).

Versorgungswirklichkeit in Deutschland

Lipoprotein(a)

Selbst bei jüngeren Herzinfarkt-Patienten wird in Deutschland nur selten das Lipoprotein(a) gemessen. Im ambulanten Bereich wird bei nur weniger als 1% aller Patienten mit atherosklerotischer Gefäßerkrankung das Lipoprotein(a) überhaupt bestimmt. Die internationalen Empfehlungen der Leitlinien zur rechtzeitigen und flächendeckenden Bestimmung des Lipoproteins(a) werden bisher nur lückenhaft umgesetzt. Nach eigenen Beobachtungen wird bis jetzt bei Erkrankungen der Aortenklappe die Bestimmung des Lipoproteins(a) praktisch gar nicht berücksichtigt. Selbst bei frühem und vorzeitigem Auftreten einer kardiovaskulären Erkrankung wird das Lipoprotein(a) nach hiesigen Beobachtungen nur in deutlich weniger als 10 % der Fälle bestimmt (Altmann C 2022).

In den Niederlanden ist man hier schon einen Schritt weiter: Das Lipoprotein(a) wird flächendeckend gescreent, bei einem positiven Befund auch Verwandte ersten und zweiten Grades. Die Versorgungswirklichkeit in Deutschland ist noch weit von der ESC-Empfeh- lung zur Messung des Lp(a)-Spiegels entfernt. In der akutmedizinischen Behandlung von Infarkt-Patienten spielen angeborene Fettstoffwechselstörungen bisher häufig eine untergeordnete Rolle. Nach aktuellen deutschlandweiten Erhebungen wird Lp(a) nach ei- nem Herzinfarkt vor dem 60. Lebensjahr nur bei etwa 5 % der Betroffenen bestimmt. Selbst bei einem jahrelangen KHK-Verlauf wird oft erst viel zu spät nach dem Lp(a)-Wert gesucht. Das wiederholt vorgetragene Argument, die Bestimmung lohne sich nicht, weil keine Therapie zur Verfügung stehe, halten wir für unbegründet. Alle Infarkt-Patienten haben einen gesetzlichen und medizinischen Anspruch auf eine Ursachenabklärung, soweit dies möglich ist. Die Betroffenen benötigen eine besondere und gezielte Aufklärung durch fachkundige Ärzte.

Familiäre Hypercholesterinämie

Die FH ist in Deutschland unterdiagnostiziert und unterbehandelt. Aktuell werden nur 15 % aller Fälle erkannt. Die Erkrankung wird differentialdiagnostisch häufig nicht bedacht (Allejo-Vaz et al 2021). Die etablierten und wissenschaftlich evaluierten Werkzeuge zur Befunderhebung werden in der Regel nicht angewendet. Wenn Patienten zur weiteren Diagnostik in spezialisierte Fachzentren überwiesen werden, dann meist ohne die entsprechende strukturierte Befunderhebung, nach Ergebnissen des CASCADE FH – Registers nur in etwa einem Viertel der Fälle (Ahmed et al 2016). Im Alltag wird die Erkrankung entweder nicht in Erwägung gezogen oder intuitiv beurteilt. Der Gentest ist möglich, wird aber selten genutzt. In einer wissenschaftlichen Untersuchung zur Bereitschaft von über 400 Betroffenen und Angehörigen für eine (kostenlose) humangenetische Untersuchung auf FH zeigten nur 1/3 der angesprochenen Risikopatienten und An- gehörigen eine Bereitschaft zum Gespräch und nur etwa 30 % eine Bereitschaft für die humangenetische Untersuchung. Die angesprochenen Angehörigen lehnten fast durchgehend die humangenetische Untersuchung ab. Letztlich erhielten unter 25 % der Befragten den Gentest, der dann bei etwa 2/3 ein positives Ergebnis zeigte (Gidding et al 2020).

Eigene Erfahrungen

In der MEDIAN Klinik Bad Gottleuba werden seit etwa 10 Jahren jüngere Patienten mit vorzeitiger Atherosklerose systematisch auf Lipoprotein(a) untersucht. Dabei zeigt sich bei etwa einem Drittel der zugewiesenen Patienten ein auffällig erhöhter Lipoprotein(a)-Wert von über 75 nmol/l. Fast immer wurde die Diagnose (auch nach längerem Krankheitsverlauf) erst in unserer Einrichtung gestellt.

Ausgehend von der großen Anzahl der Betroffenen und dem hohen Informationsbedürfnis wurde in der MEDIAN Klinik Bad Gottleuba eine systematische Schulung für Patienten mit vorzeitiger Atherosklerose und mit Aortenklappen-Erkrankungen entwickelt. Diese Schulung wird im Abstand von 2 Wochen in einer Kleingruppe durchgeführt und beinhaltet Informationen über Lipoprotein(a), über aktuelle Studien mit neuen Medikamenten, über die Möglichkeiten der Apherese, über die Bedeutung der übrigen Risikofaktoren und über den Umgang mit dem genetischen Risiko (Altmann 2020).

Seit 2015 finden regelmäßig Patiententreffen mit durchschnittlich 100 Teilnehmern in unserer Einrichtung statt. Einige der betroffenen Patienten unserer Klinik gründeten 2019 unter wesentlicher Mitwirkung des Landesverbandes Sachsen (LVSPR) in Dresden eine digitale Selbsthilfegruppe für Lp(a)-Patienten. Dank unbürokratischer Unterstützung von Verbänden und Krankenkassen breiteten sich die Aktivitäten der Selbsthilfegruppe schnell aus. Zahlreiche digitale Veranstaltungen werden inzwischen angeboten und ein eigener YouTube-Kanal eingerichtet, auf dem sich Betroffene umfassend informieren können.

Die Selbsthilfegruppe kann helfen, Betroffene aus der Isolation hinaus zu begleiten, Informationsmöglichkeiten zu schaffen, und die Aufmerksamkeit für die Diagnose „angeborene Fettstoffwechselstörungen“ bei vorzeitigem Auftreten von Herz- und Gefäßerkrankungen zu erhöhen.

Öffentlichkeitsaktion Deutscher Fachgesellschaften zum Weltherztag 2022

Im Frühjahr 2021 trat die Selbsthilfegruppe www.lipidhilfe-lpa.de mit Unterstützung des Landesverbandes Sachsen zur Prävention und Rehabilitation und der MEDIAN Klinik Bad Gottleuba an die Deutsche Herzstiftung heran. Nach Zustimmung für die Aufklärungsaktion durch den Vorstand der Deutschen Herzstiftung schlossen sich weitere Deutsche Fachgesellschaften der Aktion an (Deutsche Gesellschaft für Angiologie, Deutsche Gesellschaft für Kardiologie, Deutsche Gesellschaft zur Prävention und Rehabilitation von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung von Fettstoffwechselstörungen und ihren Folgeerkrankungen, Lipid-Liga e. V.). Es entstand ein in dieser Konstellation bis dato einmaliges Aktionsbündnis für die Öffentlichkeitsaktion „Herzinfarkt unter 50? Blutfette beachten! Lipoprotein(a) bestimmen!“, die seit Ende September 2022 bundesweite Aufmerksamkeit erzielt hat.

Dr. med. Christoph Altmann

Dr. med. Christoph Altmann
Chefarzt Klinik für Herz-Kreislauf-Erkrankungen

MEDIAN Klinik Bad Gottleuba
Königstraße 39
01816 Bad Gottleuba-Berggießhübel

median-kliniken.de