Prävention schenkt Lebensjahre

Die aktualisierte europäische Leitlinie zur kardiovaskulären Prävention empfiehlt einen individualisierten und praxisnahen Ansatz. Die gesteckten Ziele sollen die Patienten nicht überfordern und die Adhärenz verbessern.

Erschienen am 27. März 2022 in Pharmazeutische Zeitung online von Nicole Schuster

Die Inzidenz- und Mortalitätsraten der atherosklerotisch bedingten kardiovaskulären Erkrankungen (Atherosclerotic Cardiovascular Disease, ASCVD) sind in vielen Ländern Europas rückläufig. »Das ist im Wesentlichen der Verdienst der kardiovaskulären Prävention durch Senkung von hohem Blutdruck und hohem Cholesterol«, sagt Professor Dr. Ulrich Laufs, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kardiologie des Universitätsklinikums Leipzig, im Gespräch mit der Pharmazeutischen Zeitung. Doch noch mehr Menschen könnten präventiv profitieren.

Kardiovaskuläre Erkrankungen (Cardiovascular Disease, CVD) wie Schlaganfall oder koronare Herzkrankheit (KHK) sind immer noch eine der Hauptursachen für Morbidität und Mortalität. Ein gesunder Lebensstil, insbesondere das Nichtrauchen, sowie die wirksame und sichere Behandlung von Risikofaktoren wie erhöhte Blutfettwerte sind die Säulen der Prävention. Gemäß der 2021 aktualisierten Leitlinie der Europäischen Kardiologie-Gesellschaft (ESC) zur kardiovaskulären Prävention ist ein stufenweises und personalisiertes Vorgehen zu bevorzugen (1).

SCORE2 und SCORE2-OP

Unter dem kardiovaskulären Gesamtrisiko versteht man die kombinierte Auswirkung verschiedener Risikofaktoren, sowohl von Lebensstilfaktoren als auch von Krankheiten. Ein Werkzeug, mit dem sich das individuelle Risiko abklären lässt, ist der sogenannte SCORE-(Systemic Coronary Risk Evaluation-)Kalkulator (www.heartscore.org). Mit dem neuen Algorithmus SCORE2 lässt sich wie mit dem Vorgänger das Zehn-Jahres-Risiko von bisher kardiovaskulär gesunden Menschen im Alter von 40 bis 69 Jahren (vorher bis 65 Jahre) in Europa einschätzen. Dabei wird zwischen der Gruppe der Unter-50-Jährigen und der der 50- bis 69-Jährigen unterschieden.

Die Risikoabschätzung basiert auf den Faktoren Geschlecht, Alter, Raucherstatus, systolischer Blutdruck und Non-HDL-Cholesterol-Spiegel. Auch das EU-Land, in dem die Person lebt, spielt eine Rolle, weshalb die SCORE2-Arbeitsgruppe Länder gemäß des dort herrschenden kardiovaskulären Risikos in die vier Kategorien niedrig, moderat, hoch und sehr hoch unterteilt hat (2, 3). Zur Kalibrierung der Modelle für die einzelnen Länder wurde die länderspezifische CVD-Mortalität genutzt, die die Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlicht (www.who.int/data/data-collection-tools/who-mortality-database). Allerdings werden international nur sehr wenige Autopsien durchgeführt, sodass der kardiovaskuläre Tod mit gewisser Unsicherheit und regionaler Heterogenität festgestellt wird. Extrapoliert auf CVD im Allgemeinen, werden die Hochrechnungen noch unsicherer.

Für Patienten über 70 Jahre gibt es mit SCORE2-OP einen eigenen Risikorechner. Hier wird berücksichtigt, dass einerseits das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen mit dem Alter größer wird, andererseits aber auch das allgemeine Sterberisiko steigt und Senioren unter einer Pharmakotherapie häufiger Nebenwirkungen entwickeln können. Es gilt, Nutzen und Risiken besonders sorgfältig gegeneinander abzuwägen (4).

»Die Alterskategorien unter 50, 50 bis 69 und über 70 Jahre bei den beiden Algorithmen entstanden auf der Basis groß angelegter Kohortenstudien, die eine solide Datenbasis für Risikoeinschätzungen ermöglichen«, erklärt der Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie, Angiologie und Internistische Intensivmedizin. Auch für SCORE2-OP wurden die Daten für vier geografische Regionen kalibriert (4).

Die beiden SCORE-Algorithmen lassen sich auch in der Beratung einsetzen. Apotheker können damit Risiken für ihre Patienten ermitteln und gezielt zu Interventionen, zum Beispiel Ernährung, Bewegung, Gewichtsmanagement oder Raucherentwöhnung, beraten. Motivierend sind regelmäßige Re-Evaluationen, sodass Patienten positive Veränderungen sehen und dadurch bestärkt sind, ihr Verhalten langfristig zu ändern.

Stress und Umweltfaktoren

Die wichtigsten kausalen, modifizierbaren Risikofaktoren sind Hyperlipidämien, Hypertonie, Zigarettenrauchen und Diabetes mellitus (DM) (1). Die Autoren der ESC-Leitlinie berücksichtigen zudem sogenannte Risikomodifizierer, die das Risiko in die eine oder andere Richtung verschieben können. Dazu gehören Stress und psychosoziale Faktoren, der koronare Calcium-Score als Maß der Verkalkung der Koronararterien und die Ethnizität.

Je mehr psychosozialer Stress, desto schneller entwickeln sich ASCVD und desto schneller schreiten sie voran. Indikatoren psychischer Gesundheit wie Optimismus und Zielstrebigkeit wiederum sind mit einem geringeren Risiko assoziiert (5).

Mehr Aufmerksamkeit bekommt auch die Ethnizität. In Europa leben zahlreiche Menschen, deren ethnischer Ursprung in Ländern wie Indien, China, Nordafrika oder Pakistan liegt und deren Risiko sich von dem der weißen Europäer unterscheiden kann. Basierend auf Daten aus dem Vereinigten Königreich ist zum Beispiel das Risiko für Inder und Bangladescher mit 1,3 und für Pakistaner mit 1,7 zu multiplizieren, für Schwarzafrikaner und Chinesen jedoch nur mit 0,7. Warum diese Unterschiede bestehen, ist noch nicht ausreichend erforscht. Ein Multiplikationsfaktor kann das kardiovaskuläre Risiko aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit unabhängig von anderen Faktoren berücksichtigen (1, 6).

Gesund leben als Basis

Bereich Präventionsziele
Ernährung gesunde Mischkost mit viel Obst, Gemüse, Vollkornprodukten, Fisch und ungesättigten Fettsäuren mehr pflanzliche und weniger tierische Lebensmittel 30 bis 45 g Ballaststoffe pro Tag, vorzugsweise aus Vollkorn mindestens 200 g Obst und 200 g Gemüse pro Tag rotes und verarbeitetes Fleisch reduzieren(fetten) Fisch ein- bis zweimal pro Woche 30 g ungesalzene Nüsse pro Tag zuckergesüßte Getränke reduzieren
Kochsalzzufuhr unter 5 g/Tag
Alkoholkonsum nur moderater Genuss, täglich maximal: Männer ≤ 20 bis 30 g und Frauen ≤ 10 bis 20 g
Tabakkonsum Tabakabstinenz, bei Rauchern Entwöhnung
Körpergewicht Gewichtsreduktion auf einen BMI von 20 bis 25 kg/m2 sowie Taillenumfang: Männer
Bewegung regelmäßige moderate Bewegung, zum Beispiel Walken, Joggen, Radfahren oder Schwimmen für mindestens 30 Minuten an fünf bis sieben Tagen pro Woche
Tabelle 1: Lebensstiländerungen: Präventionsziele auf einen Blick

Die Basis von allem ist ein gesunder Lebensstil. Wer viel sitzt, hat ein höheres Risiko, Herz-Kreislauf- und Stoffwechselkrankheiten zu entwickeln. Präventiv wirkt bei Erwachsenen jeden Alters, körperlich aktiv zu sein: mindestens 150 bis 300 Minuten pro Woche mit moderater Intensität (Gehen in mäßigem oder zügigem Tempo, langsames Radfahren bis 15 km/h, Gesellschaftstanz) oder 75 bis 150 Minuten pro Woche mit hoher Intensität (Laufen, Joggen, Radfahren > 15 km/h, Schwimmen). Das kann die Gesamt- und die kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität reduzieren. Auch Haus- und Gartenarbeit wie Staubsaugen oder Rasenmähen zählt als Bewegung (1).

Ernährungsgewohnheiten wirken sich auf Lipide, Blutdruck, Körpergewicht und Diabetes aus. Auch hier ist die gute Nachricht, dass Patienten ihr Risikoprofil verbessern können. Empfehlenswert ist die »mediterrane Ernährungsweise« mit einem hohen Anteil an Gemüse und Vollkornprodukten (Tabelle 1). Die Kalorienaufnahme sollte dem individuellen Kalorienverbrauch entsprechen. Fettleibige Menschen profitieren von einer Gewichtsreduktion (1).

Die mit Abstand beste Evidenz liegt für Nichtrauchen und körperliche Aktivität vor. Viele zum Teil aus kommerziellen Interessen propagierte Ernährungsempfehlungen sind nicht durch belastbare Studien gesichert und dürfen nicht dazu führen, notwendige pharmakologische Therapien zu verzögern. Eine fachkundige Beratung in der Apotheke kann dazu beitragen, Patienten vor oft gefährlicher Scharlatanerie zu schützen.

Viele Menschen suchen in der Apotheke auch Informationen zu Nahrungsergänzungsmitteln (NEM), etwa mit Fischöl und Omega-3-Fettsäuren. Allerdings ist eine Nutzenbewertung schwierig, da sich die in der Menge zahlreichen Studien in Studiendesign und Dosis/Art der getesteten Substanz unterscheiden. Es gibt Hinweise aus der REDUCE-IT-Studie, dass gereinigte Eicosapentaensäure (EPA) wirksamer sein könnte als die Kombination mit Docosahexaensäure (DHA) (7). Ein Risiko der Omega-3-Präparate könnte Vorhofflimmern (VHF) sein, wie die PZ im November 2021 berichtete (8). Andere Studien wie die STRENGTH-Studie, in denen Mischpräparate aus EPA und DHA eingesetzt wurden, sowie eine Metaanalyse aus 2018 zeigten hingegen enttäuschende Ergebnisse. Es ließ sich kein klinisch relevanter Unterschied hinsichtlich der Rate an Herz-Kreislauf-Vorfällen wie Herzinfarkt oder Schlaganfall beziehungsweise Sterblichkeit gegenüber Placebo ableiten (9, 10).

Ob sich die Einnahme der Vitamine A, E, D und C sowie der B-Vitamine B6, Folsäure und B12 auf das ASCVD-Risiko auswirkt, konnte in Studien nicht eindeutig bestätigt werden. Von anderen NEM, etwa mit Rotschimmelreis, der Cholesterol-Werte senken soll, raten die Autoren der Präventionsleitlinie wegen möglicher Nebenwirkungen ab (1).

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