Ein Herz für Arzneimittel
Der Bundestag könnte bald ein Gesetz beschließen, das zwei Millionen Menschen mit kardialen Risiken dauerhaft auf Medikamente setzt
Erschienen im FOCUS Magazin | Nr. 34 (2024) und auf focus.de von Kurt-Martin Mayer unter Mitwirkung der LipidHilfe
Vor gut einem Jahr, Ende Juli 2023, erschien in der Fachzeitschrift „European Journal of Epidemiology“ ein Artikel der Medizin-Professoren Stephan Baldus und Karl Lauterbach. Letzterer hatte bereits während der Corona-Pandemie mehrmals sein Handeln als Bundesgesundheitsminister mit eigener wissenschaftlicher Expertise unterfüttert. In dem Artikel zitierten Lauterbach und der Kölner Kardiologe Baldus Zahlen unter anderem aus dem Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock zur Lebenserwartung Deutschlands im internationalen Vergleich. Eine Zahl: Mit durchschnittlich 80,5 Jahren leben Mann und Frau hierzulande um 1,7 Jahre kürzer als in den anderen westeuropäischen Ländern.
Baldus und Lauterbach zufolge zeichne die Rostocker Studie „ein finsteres Bild“ von der Lage im Heimatland. Schuld am frühen Tod in Deutschland seien vor allem Lücken in der Diagnose von Herzleiden. Nur jeder Zweite mit schlechten Fettwerten im Blut wisse darüber Bescheid. Bei drei von vier jungen Männern mit Bluthochdruck sei die Gefahr unerkannt. Die geringe Lebenserwartung, so suggerierten die beiden Autoren, hänge hauptsächlich mit mangelhafter Herz-Kreislauf-Gesundheit zusammen.
Am kommenden Mittwoch könnte nun die Bundesregierung Lauterbachs Gegenmaßnahme auf den Weg bringen. Das Gesundes-Herz-Gesetz steht auf der Tagesordnung. Das Gesetz bietet jedem Bürger engmaschige, kostenlose Untersuchungen wichtiger Risikofaktoren für Herz und Kreislauf an. Besonders zielt es auf das LDL-Cholesterin, jene Sorte von Fettproteinen, die sich im Inneren von Arterien ablagern und die Gefäße verstopfen können. Dieser Prozess ist ein Hauptgrund für die gefürchtete Arteriosklerose.
Kern des Gesetzes: Wer bestimmte Cholesterinwerte erreicht, soll die Empfehlung erhalten, von nun an Medikamente einzunehmen. Lauterbachs Ministerium schätzt, dass dadurch zusätzlich rund zwei Millionen Menschen einen „Anspruch auf Versorgung mit Statinen“ haben könnten. Statine sind eine 50 Jahre alte Klasse von Stoffen, die schädliche Fette in den Arterien beseitigen.
Zugute kommen soll die ungewöhnliche Regelung Menschen wie Silke Dressel aus Eibenstock im Erzgebirge. Die 56-jährige ehemalige Altenpflegerin erlitt vor viereinhalb Jahren einen Herzinfarkt.
„Zuvor hatte ich drei Wochen lang Schmerzen in der Schulter, nahm das aber nicht weiter ernst.“
Dann kam die Nacht mit Schweißausbrüchen und scheinbarem Sodbrennen, nach der Dressel zum Arzt ging. Der schickte sie sofort in die Klinik.
Dressel überlebte. Doch sie weiß auch, dass sie und ihr Hausarzt Warnzeichen übersahen. Bei der alljährlichen Gesundheitsuntersuchung habe sich stets ein erhöhter LDL-Cholesterinwert ergeben. Auch dass ihr Vater mit 62 den Herztod erlitt, hätte sie stutzig machen müssen. Doch erst nach dem Infarkt stellte sich heraus, dass Dressel genetisch belastet ist. Der Blutfettbestandteil Lipoprotein(a) ist bei ihr von Geburt an zu hoch. Um ihn zu senken, nimmt sie nun täglich ein Statinpräparat ein.
80,5 Jahre beträgt die Lebenserwartung für Männer und Frauen in Deutschland. Das liegt ungefähr im EU-Durchschnitt, aber hinter vielen vergleichbaren Ländern
Lauterbachs Herzvorsorgegesetz sieht vor, dass Menschen mit 25, 35 und 50 Jahren jeweils eine Einladung mit Gutschein für Tests auf LDL-Cholesterin und andere Parameter wie Blutdruck erhalten. Durchführen sollen ihn vor allem die Apotheken. Das soll nicht nur genetisch vorbelastete Patienten wie Dressel identifizieren, sondern auch jene, deren Lebensstil ihren Herzkranzgefäßen zusetzt, etwa durch Übergewicht, Bewegungsmangel und Rauchen. „Unter idealen Vorbeuge-Bedingungen ließen sich fast 90 Prozent aller Herz-Kreislauf-Erkrankungen vermeiden“, sagte Lauterbach in einem Interview.
In Bayern wird der Kardio-Check erprobt
Geht es nach dem Minister, sollen sich sogar Jugendliche massenhaft Kardio-Checks unterziehen. Dafür gibt es ein Vorbild, die Vroni-Studie in Bayern. Sie heißt so nach ihrer Leiterin, der Kardiologin Veronika Sanin vom Deutschen Herzzentrum in München. Unter dem Motto „Herzinfarkt mit 35? Ohne mich!“ wirbt das Projekt bei Kinder- und Jugendärzten dafür, bei den Früherkennungsuntersuchungen der Stufen U9 und J1 Bluttests anzubieten. Liegt der LDL-Cholesterinwert über einer bestimmten Schwelle, schließt sich ein Gentest an. Auf diese Weise habe die Vroni-Studie unter 23.000 untersuchten Fünf- bis 14-Jährigen 235 gefunden, bei denen hohe Fettwerte im Blut genetisch bedingt sind.
Bei einer familiären Hypercholesterinämie – so der Name der Störung – seien Statine bereits im Kindesalter indiziert, sagt Sanin. Die 235 Fälle aus ihrer Studie dürften also das Medikament erhalten. Wer die Risikowerte eher deshalb aufweist, weil er sich zu üppig oder falsch ernährt, soll hingegen durch Änderungen im Lebensstil auf einen gesunden Weg kommen.
Nach ihren Erfahrungen und nach internationalen Studienergebnissen lobt Sanin Lauterbach jedenfalls in höchsten Tönen. Das kommende Gesetz sei „die wichtigste Initiative der letzten Jahre, um die Herz-Kreislauf-Gesundheit in Deutschland zu verbessern“. Schließlich sei die bescheidene Lebenserwartung hauptsächlich „auf die mangelhafte kardiovaskuläre Prävention“ zurückzuführen, sagt Sanin. Die Münchner Ärztin bedauert lediglich, dass Lauterbach das Testangebot erst bei der J1-Kontrolle – mit zwölf bis 14 Jahren – beginnen lassen will. Bezöge man hingegen die Fünfjährigen (zur U9-Kontrolle) ein, böte sich die Chance, auch deren Eltern vor einer familiären Hypercholesterinämie zu warnen. Eltern von fünfjährigen Kindern seien meist Anfang 30, „und der durchschnittliche Patient mit dieser genetischen Belastung hat sein erstes Herz-Kreislauf-Ereignis mit 38“. Man könnte also rechtzeitig gegensteuern, etwa mit Statinverschreibungen.
Allerdings gibt es auch großen Unmut über das Gesundes-Herz-Gesetz. Manchen ist es ein zu weitgehender Eingriff in bestehende Strukturen des deutschen Gesundheitswesens. Das beginnt bei den Ausgaben. 90 Millionen Euro pro Jahr soll die zusätzliche Versorgung mit Statinen kosten. Das ist im Prinzip nicht viel, denn schließlich sind Statine längst „generische“ Mittel mit abgelaufenem Patentschutz. Dank großer Konkurrenz sinkt der Preis, auf derzeit etwa 45 Euro Therapiekosten pro Jahr. Das Gesetz sieht aber eine Anrechnung der 90 Millionen auf die Ausgaben der Krankenkassen für Gesundheitsförderung und Primärprävention vor. Die Rechnung gehe, so argwöhnen viele, nur auf, wenn Herzgymnastik, Diätkurse und ähnliche Angebote entfallen.
Etwaige Nebenwirkungen der Statine spielen selbst in den Augen der Kritiker keine große Rolle. „Die wissenschaftlichen Daten sprechen dafür, Statine in der Primärprävention, etwa wenn Erwachsene im mittleren Lebensalter erhöhte Risiken aufweisen, früher zu verabreichen“, sagt Markus Beier, der Vorsitzende des Hausärztinnen- und Hausärzteverbands. 23 Jahre ist es her, dass Bayer den Statin-Wirkstoff Cerivastatin nach schweren, auch tödlichen Fällen von Muskelzerstörung vom Markt nahm. Die heute erhältlichen Mittel wie Rosuvastatin hätten ein deutlich besseres Nebenwirkungsprofil, beteuert die Fachwelt. In Beipackzetteln finden sich nur noch Hinweise auf Myalgie, also Muskelschmerzen.
„Die wichtigste Initiative seit Jahren, um die Herz-Kreislauf-Gesundheit zu verbessern“ Veronika Sanin Kardiologin, München
Als schlimmer empfinden viele Kritiker die Wirkung auf das ärztliche Selbstverständnis. „Es grenzt an Staatsmedizin, in ein Gesetz detailliert hineinzuschreiben, bei welchen Werten Versicherte Anspruch auf bestimmte Medikamente haben“, sagt Hausärztechef Beier. Wegen der Test-Anlaufstellen in den Apotheken befürchtet er außerdem, dass die Hausarztpraxen „danach von verunsicherten Menschen überflutet werden“. Der Apothekerverband übrigens ist auch nicht glücklich. Er fordert von Lauterbach, von an anderer Stelle geplanten Einsparungen (FOCUS 31/24) abzusehen.
Viele Fachleute stoßen sich letztlich an der grundsätzlichen politischen Botschaft, die das Gesetz enthält. „Die Politik drückt sich um die Verhältnisprävention“, sagt der Hamburger Internist Jens Kröger, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Diabetes-Hilfe. Damit sind Eingriffe in gesellschaftliche Gegebenheiten gemeint, die tatsächlich oder angeblich ungesundes Verhalten fördern. Zur Verhältnisprävention zählen Werbeverbote für Alkohol, zuckerreiche Speisen und mehr, eine Ernährungserziehung auf allen Ebenen und die strenge Kennzeichnung von Lebensmitteln. Vertreter dieser Denkschule schütteln auch den Kopf, weil Karl Lauterbach, der als Gesundheitsökonom einst pharmakritische Thesen vertreten habe, nun solch ein Gesetz forciere.
Das Anrecht auf Nichtwissen …
„In einem Gesetz festzulegen, ab welcher konkreten, fein justierten Indikationsstellung man eine Medikamententherapie macht, ist ehrlich gesagt völlig gaga … “
sagte der krankenkassennahe Mediziner Jürgen Windeler in der „Ärzte Zeitung“.
Er und andere fürchten um die Errungenschaften der sogenannten evidenzbasierten Medizin und um die Zuständigkeit von selbstverwalteten Gremien wie dem Gemeinsamen Bundesausschuss, in dem Ärzte und Krankenkassen in langwierigen Prozessen festlegen, was wem verordnet werden darf.
Einen weiteren Unsicherheitsfaktor für das Gelingen von Lauterbachs Gesetz kennt Herzpatientin Silke Dressel aus ihrem Umfeld – das Nicht-so-genau-wissen-wollen. Obwohl das Problem, das ihr den Infarkt bescherte, in den Genen liegt, habe sie die eigene Tochter noch nicht zu dem Bluttest überreden können.